Eine weiße Rose

Lara lebte mit ihrer Mutter in der Kleinstadt V. Seit ihr Vater vor einigen Jahren fortgegangen war, wohnten sie in einer kleinen Wohnung am Waldrand. Die Mutter arbeitete als Altenpflegerin in einem nahe gelegenen Heim. Sie arbeitete viele Stunden am Tag, machte oft Überstunden und übernahm Sonderschichten, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu verdienen. Dennoch war das Geld oft knapp. Lara störte das sehr, besonders wenn sie nach den Ferien wieder in die Klasse kam und die Schulkameraden wild durcheinander redeten, von ihren Reisen im Sommer oder von den Geschenken, die sie zu Weihnachten bekommen hatten. Lara saß dann in der hintersten Reihe und schaute aus dem Fenster und wartete bis sich die ganze Aufregung gelegt und wieder Normalität in den Klassenraum eingekehrt war.
Laras Schule lag zehn Kilometer entfernt in der Nachbarstadt G. Zwar gab es auch in ihrem Heimatort eine Schule. Aber die Mutter wollte, dass sie auf eine gute Schule ging. Das sei wichtig für später. Jeden Morgen nahm Lara um 7:00 Uhr das Schulbrot vom Frühstückstisch, das ihr ihre Mutter zwei Stunden zuvor belegt hatte, mit Butter, Käse und dünnen Gurkenscheiben und machte sich auf dem Weg zum Bus. So auch an jenem 12. November vor 13 Jahren. Es war kalt draußen und noch dunkel. Lara zog sich den Schaal vors Gesicht, um sich vor der Kälte zu schützen. An der Haltestelle stand der Bus schon abfahrbereit. Sie stieg ein, streifte die anderen Kinder mit einem flüchtigen Blick und setzte sich in die fünfte Reihe, auf den linken Platz am Fenster, ihren Stammplatz. Heute war der Geburtstag ihrer Mutter, dachte sie, als der Bus sich in Bewegung setzte. Sie würde ihr gerne etwas schenken. Aber sie wollte nicht wie jedes Jahr, mit einer Glückwunschkarte in der einen und einer Rose in der anderen Hand vor ihr stehen. Jedes Jahr zum Geburtstag wünschte sich ihre Mutter eine weiße Rose. Dies war ihre Lieblingsblume. Lara wusste zwar nicht, warum, sie selbst fand rote oder gelbe Rosen viel schöner, aber sie erfüllte ihrer Mutter dennoch jeden November diesen Wunsch. Dieses Jahr hätte sie ihr gerne ein anderes Geschenk gemacht, ein Parfum oder Pralinen für sie gekauft. Aber dafür reichte ihr weniges Taschengeld nicht aus. Sie wühlte in ihren Jackentaschen, fand dort jedoch nur 80 Cent in kleinen Münzen und seufzte leise.
Den Schultag über vergas sie die Sorgen um das Geschenk und freute sich über ihre gute Note im Biologietest und darüber, dass Marie sie gefragt hat, ob sie in ihr Freundschaftsbuch reinschreiben möchte.
Nach dem Unterricht blieb sie noch ein bisschen länger im Klassenraum sitzen, um die Geburtstagskarte für ihre Mutter fertig basteln. Dabei vergas sie, auf die Uhr zu sehen und als sie es doch tat, war es schon viertel nach zwei. Sie rannte aus dem Gebäude, über den leeren Schulhof, hinüber zur Haltestelle, aber der Bus war bereits auf seinem Weg nach V. Der nächste würde erst in einer Stunden fahren. Sie schaute sich um, aber zurück ins Schulgebäude wollte sie jetzt nicht mehr gehen. So kahl und verlassen, wie es da im Nebel vor ihr lag, war es ihr nun ein bisschen unheimlich. Sie wusste zwar, dass der alte Hausmeister Bertram noch dort sein musste, aber gerade ihm und seinem schwarzen Hund wollte sie nicht alleine begegnen. Also machte sie sich auf den Weg in die Innenstadt. Sie ging an einem See vorbei, beobachtete die Enten, die am Ufer saßen, dicht beisammen. Schließlich fand sie einige Geschäfte, einen Buchladen, einen Frisör und einen Blumenladen. In diesem ging sie hinein. Da sie ja jetzt Zeit hatte, bis der nächste Bus kam, konnte sie auch in G. die Rose für ihre Mutter kaufen. Die alte Frau hinter der Theke grüßte sie freundlich mit einem Nicken und schaute sie mit ihren dunkeln tief blauen Augen an. Ihre grauen Haare hatte sie an ihrem Hinterkopf hochgesteckt. Obwohl sie sich nicht bückte war ihr Rücken auffällig krumm. Vor dem Bauch trug sie eine grüne Schürze mit zwei kleinen Taschen an den Seiten.
            „Was kann ich für dich tun, mein Kind?“ fragte die Alte schließlich.
„Ich hätte gerne eine weiße Rose“, sagte Lara, „für meine Mutter, sie hat heute Geburtstag. Sie wünscht sich immer eine weiße Rose von mir.“ Die alte Frau lächelte, ging mit schlurfenden Schritten quer durch den Laden und nahm weiße Rose aus einer der vielen Vasen. „Ich mache dir die Dornen unten am Stil ab, damit du dich nicht verletzt, sagte sie“, als sie wieder hinter der Theke angekommen war. Aus einer Schublade zog sie ein kleines Messer hervor. Mit sanften Bewegungen fuhr sie damit am Stiel entlang. Als sie damit fertig war, streckte Lara ihr ihre Münzen entgegen. Die alte Frau öffnete die Kasse mit einem klirrenden Geräusch. Doch dann zögerte sie und lächelte erneut. „Lass, mein Kind, ich schenke sie dir.“ In diesem Moment verzog die Alte ihr Gesicht. Sie fasste sich ans Herz und öffnete ihren Mund, ganz weit, als ob sie etwas rufen wollte, aber dann stieß sie nur ein leises, kaum hörbares „hol Hilfe“ hervor, bevor sie besinnungslos zu Boden sank. Lara blieb stehen. Sie starrte die Alte an. Sie flüsterte „Hallo?“, aber bekam keine Antwort. Sie versuchte es erneut, diesmal etwas lauter, brach aber erschrocken über ihre eigene Stimme nach der ersten Silbe ab. Unter ihrer Winterjacke begann sie zu schwitzen. Die Alte bewegte sich nicht. Ängstlich trat sie erst einen Schritt nach vorne und dann noch einen. Der Schaal kratze an ihrem Hals. Sie wollte nach der weißen Rose greifen, die bereits von Dornen befreit vor ihr lag. Da sah sie die Geldscheine in der offenen Kasse. Ihre Augen zuckten, ihre Finger, zwei Mal, dann griff sie zu. Steckte die Scheine tief in ihre Taschen, riss die Blume von der Theke und eilte aus dem Laden hinaus, ohne noch einmal nach der Alten zu sehen..
Als der Bus kam, war sie erleichtert, endlich aus G. wegzukönnen. Weil ihre Mitschüler bereits vor einer Stunde nach Hause gefahren waren, saßen nur wenige Fahrgäste in dem Bus: Außer ihr eine Frau mit ihrem kleinen Sohn und ein Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen trug. Sie war so aufgeregt, dass sie gar nicht bemerkte, dass jener Unbekannte in der fünften Reihe auf dem linken Platz am Fenster saß. Sie setzte sich zwei Reihen hinter ihn und schaute nach draußen. Ihre Mutter wartete bestimmt schon auf sie. An ihrem Geburtstag kommt sie immer früher von der Arbeit nach Hause, so dass sie zusammen den Nachmittag verbringen können. Lara fühlte den weichen Stiel in ihrer Hand. Wenigstens hatte sie die Rose als Geschenk. Im Vorbeifahren sah sie den dichten Tannenwald, traurig hängende Zweige. Auf einer Lichtung entdeckte sie ein Reh. Für einen Moment zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Als der Bus endlich das Ortsschild von V. passierte, wandte sie den Blick vom Fenster ab. Da stockte ihr der Atem, ihre Lippen begannen zu zittern. Sie kniff ihre Augen zusammen, riss sie aber sofort wieder auf. Sie musste es sehen: die Rose in ihrer Hand hatte schwarze Blätter.

 

 

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