Herr Meyer und das Meer

Herr Meyer will das Meer sehen und packt seinen Koffer, einen kleinen braunen, mit zwei Messingschnallen daran. Er fährt mit dem ersten Zug um 6:23 Uhr. Während der Fahrt schaut er aus dem Fenster, sein Nacken ist starr, auch sein Blick, der Schaffner denkt, er würde schlafen und fragt ihn nicht nach seiner Fahrkarte. Dabei schläft Herr Meyer nie, wenn er das Haus einmal verlassen hat, seine Augen sind immer offen, zumindest einen Spalt breit, einen kleinen Spalt.

Als er das letzte Mal das Meer gesehen hatte, war er ein kleiner Junge, er stand in seiner kurzen blauen Hose neben seinem Vater am Strand und er fror, weil der Wind noch kalt war im März. Sie hatten hinausgeschaut aufs Wasser und dabei zugesehen, wie die Segelboote vom nahe gelegenen Steg ablegten und sich langsam vom Ufer entfernten. Ein Boot hatte eine rote Fahne, ein Piratenboot, hatte er gedacht, damals.

Jetzt war er alt, seine Haare grau und sein Vater tot. Er hatte keine Familie und keinen Sohn, den er hätte mitnehmen können. Daher fuhr er allein, immer ein bisschen auf der Hut, den Kragen seines grauen Mantels hochgestellt, mit geknicktem Nacken seinen Hals, sein Kinn darin verborgen. Im Schutz der dunklen Höhle aus Stoff.

An der letzten Station stieg er aus, es schien als sei er der letzte Reisende in diesem Zug, an diesem Tag. Der Bahnhof war klein, zwei Gleise, ein Kiosk, ein Fahrkartenautomat. Ein Mann mit oranger Jacke kehrte mit einem Besen bis zum Filter abgerauchte Zigarettenstummel und den dunklen Dreck vom Asphalt zusammen. In gleichmäßigen Bewegungen, begleitet von einem steten metallischen Kratzen.

Herr Meyer will das Meer sehen. Er geht an dem Mann vorbei, an dem Kratzen, hinaus auf die kleine Hauptstraße, die vor dem Bahnhof liegt. Die Häuser sehen anders aus als früher, aber er kennt den Weg, seine Beine laufen ohne zu Zögern in die richtige Richtung, während der kalte Wind ihm in den Kragen seines Mantels kriecht.

An einer Kreuzung bleibt er kurz stehen, obwohl kein Auto zu sehen ist. Er schaut auf seine Armbanduhr, es ist inzwischen viertel nach zwölf. Der Koffer wiegt schwer in seiner Hand. Mit gleichmäßigen Schritten setzt er seinen Weg fort.

Das erste, was ihn an früher erinnert, sind die Möwen, die schreien und sich ins Wasser stürzen. In seine glattbraunen Lederschuhe rutscht der Sand, während er den Dünenberg hinab zum Ufer läuft. Auf halben Weg zum Steg bleibt er stehen. Ein Segelboot liegt vor ihm im Wasser, bereitet sich auf seine Abfahrt vor. Er erkennt das Boot mit der roten Fahne und ein kurzes Lächeln zuckt über seinen Mund. Er will darauf zulaufen, da sieht er plötzlich von rechts zwei Gestalten auf den Steg zugehen, einen Vater und seinen Sohn. Sie bleiben nicht am Strand stehen, sondern gehen direkt zum Steg. Der Junge trinkt Cola aus der Dose und zieht die braune Flüssigkeit gierig durch einen Strohhalm aus gelbem Plastik. Vor dem Boot bleiben die beiden stehen. Der Bootsmann spricht sie an, die drei lachen. Der Junge stellt die Dose auf dem Steg ab und holt sein Smartphone aus der Hosentasche. Er fotografiert die Fahne, sich selbst, den Mann und den Vater. Dann steigen Vater und Sohn zu dem Mann ins Segelboot, das sich kurz darauf vom Ufer entfernt.

Herr Meyer stellt seinen Koffer in den Sand. Er schaut ihnen nach, bis die Fahne nicht mehr zu erkennen ist, bis er nur noch das Meer sieht, den weißen Steg und die rote Dose, die in der Sonne glitzert.

 

 

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