Der Ring des Großvaters

Es war schon eine ganze Zeit lang vergangen seit Nils das letzte Mal den Ring seines verstorbenen Großvaters Alfred aus der Schublade herausgenommen und betrachtet hatte. Der Ring war golden und groß, zu groß für Nils Finger und hatte auf der Innenseite die Initialen A. D. eingraviert. Als der Großvater wusste, dass er bald sterben würde, hatte er alle Familienangehörige nacheinander zu sich gerufen. Er wollte mit jedem einzeln sprechen. Zu Nils hatte er gesagt, er solle ein guter Mensch sein und ihm dann seinen Ring gegeben. Diesen könne er benutzen, wenn er einmal in Not sei, der werde ihm helfen, aber eines müsse er versprechen, dass er ihn nicht verkaufe. Nils verstand jene Worte nicht recht, aber er drückte die faltige Hand des alten Mannes und nickte.
 
Es war an einem achten Februar, als Nils wie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Redaktion des Städtischen Anzeigers von B. fahren wollte. Doch diesmal stand es nicht vor seiner Haustür, gegen einen Laternenpfahl gelehnt. Dort befand sich nur noch das durchgetrennte schwarze Schloss. Nils trat dagegen und fluchte, dann sah er auf seine Armbanduhr. Er würde zur spät kommen, das wusste er, denn die nächste Straßenbahn fuhr erst in einer halben Stunde. Widerwillig machte er sich zu Fuß auf den Weg. Nachdem er durchgefroren in der Redaktion angekommen war, legte ihm sein Chef einen Stapel Berichte auf den Schreibtisch, zum Überarbeiten, sagte er, mit etwas vorwurfsvollem Blick.
Als Nils gerade dabei war, sich durch seine rot markierten Texte zu kämpfen, klingelte das Telefon. Er sah eine englische Nummer auf dem Display. Das ist Susanne, dachte er und lächelte. Seit seine Freundin für ein Auslandssemester nach London gegangen war, hatten sie wieder angefangen sich Briefe zu schreiben und oft zu telefonieren. Inzwischen war die Zeit lang geworden und er freute sich darauf, dass sie in zwei Monaten wieder in der gemeinsamen Wohnung nebeneinander einschlafen würden. Nils nahm den Hörer ab. Doch wider erwarten erkannte er nicht Susannes Stimme am anderen Ende der Leitung. Er hörte ein Rauschen und dann eine kratzige Männerstimme, die schnell redete. Anfangs verstand er nur einzelne Worte „Susan“, „hospital“, „it was an accident“. Dann begann er zu verstehen. Susanne lag im Krankenhaus. Sie hatte einen Unfall gehabt, morgens im Berufsverkehr. Sie war spät dran, wollte ihren Bus noch erreichen. Sie ist über die Straße gelaufen und das Auto konnte nicht rechtzeitig bremsen. Nils schrieb mit zitternden Fingern den Namen des Krankenhauses auf einen Zettel und legte auf. Was er eben erfahren hatte, wurde in seinem Kopf zu Bildern, die er nicht ertragen konnte. Er stand auf, nahm seine Jacke und verließ das Büro, während sein Chef mit wütender Stimme etwas hinter ihm her rief.
Er rannte durch die Kälte nach Hause. Sein Herz raste und er hatte nur den einen Gedanken im Kopf: ich muss zu ihr, sofort. In der Wohnung angekommen, startete er seinen Laptop und suchte nach der nächsten Flugverbindung. Bis nach München zum Flughafen würde er zwei Stunden brauchen. Er sah auf die Uhr, inzwischen war es halb elf, ab 13:00 konnte er abfliegen. Er gab die Suche ein und wartete, Sekunden, die ihm zu lang vorkamen. Dann das Ergebnis, in einem Flieger um 15:30 Uhr gab es noch freie Plätze, allerdings nur in der ersten Klasse, in einer Maschine um 17:00 Uhr konnte er noch für 900€ ein Ticket buchen. Nils fluchte laut auf, normalerweise waren die Flüge nach London billiger als die Zugfahrt zum Flughafen. Und gerade jetzt war sein Konto schon bis zum Limit überzogen hatte, weil die Redaktion immer weniger Artikel von ihm druckte und weil er schon seit einem Jahr versuchte die Kaution von seiner alten Wohnung zurück zu bekommen. Aber das war jetzt egal, er musste zu ihr, egal zu welchem Preis. Er holte seine Kreditkarte hervor, wählte den Flug um 15:30 aus, gab seine Nummer ein, drehte die Karte um, da stockte ihm der Atem. Das Gültigkeitsdatum war seit einem Monat abgelaufen. Die letzten Male hatte Susanne ihn besucht und als er im September zu ihr geflogen war, hatte er nicht auf das Datum geachtet. Er klappte den Laptop zu und stand auf, ging in der Wohnung auf und ab, trank ein Glas Leitungswasser, machte ein Fenster auf und dann wieder zu. Da fiel ihm der Ring seines Großvaters ein. Er ging zu der Kommode im Schlafzimmer und fand ihn dort in der dritten Schulbade liegen. Er drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Vielleicht würde er genug Geld dafür bekommen, genug für ein Flugticket. Er steckte den Ring in seine Hosentasche und ging in die nahe gelegene Altstadt. In einer der Gassen fand er einen Juwelier mit einem Schild „An- und Verkauf von Goldschmuck“ im Schaufenster. Über einen roten Teppich ging Nils hinein, wobei er beim Gehen leicht einsackte. Der Ladenbesitzer stand hinter einer Glasvitrine, in der verschiedene Ketten ausgestellt waren und lächelte ihn zur Begrüßung freundlich an. „Ich habe einen Ring“, sagte Nils, „den möchte ich gerne verkaufen“. Der Mann holte ein gepolstertes Tablett unter der Theke hervor. Nils zögerte für einen Moment, es war ihm als spürte er noch einmal den Händedruck seines Großvaters, aber dann legte er den Ring vor dem Verkäufer nieder. Dieser nahm ihn mit der linken Hand führte ihn dicht vor sein Gesicht, kniff das linke Auge zusammen und betrachtete ihn durch ein kleines Vergrößerungsglas, das er vor sein rechtes Auge hielt. Nach ungefähr einer Minute, in der er abwechselnd Nils und Ring betrachtet hatte, ließ er letzteren sinken. „Ich gebe Ihnen 20 Euro dafür“, sagte er, „der Ring ist bloß vergoldet.“ Nils nahm das Erbstück wortlos aus der Hand des Mannes und verließ den Laden. Er streifte durch die Gassen und ging dann in ein Café, um sich aufzuwärmen. Als die Bedienung fragte, was er trinken wolle, zeigte er nur mit dem Finger auf die Karte, wo Kaffee stand. Er konnte jetzt nicht sprechen. Die Bedienung nickte daraufhin und verschwand in der Küche.
Außer ihm waren nur wenige Gäste im Café. An einem Tisch im hinteren Teil des Raums saß ein alter Mann und zwei Tische von ihm entfernt eine Frau mit ihrer vielleicht achtjährigen Tochter. Nils sah die anderen Leute nur kurz an und dann wieder weg. Dann zog er den Ring aus seiner Hosentasche hervor. In seiner Handfläche liegend betrachtete er ihn. „Und du hättest mir also helfen sollen“, murmelte er spöttisch und enttäuscht zugleich. Er probierte den Ring an den Fingern seiner rechten Hand, er passte nirgends, rutschte ihm auch am Mittelfinger wieder hinunter, so groß war er. Wer hat denn solche Finger, dachte Nils, und schob sich den Ring über den Daumen, wo dieser ihm zumindest annähernd passte. In Gedanken an Susanne drehte er den Ring noch ein paar Mal an seinem Finger. Da verließ der alte Mann das Café, streifte ihn im Vorbeigehen mit seinem Mantel und riss ihn mit dieser Berührung aus seinen Gedanken. „Passen Sie doch auf,“  wollte Nils erst sagen, doch da sah er einen Briefumschlag aus dem Mantel des Alten heraus gleiten. Nils hob ihn auf und drehte sich um, doch der Alte war bereit verschwunden. Er lief zur Tür, machte sie auf und schaute auf den Platz hinaus, doch konnte er den Herren in keiner Richtung erblicken. So ging er zurück zu seinem Platz und betrachtete den Umschlag. Er war weiß, nur in der Mitte standen in schwarzer Schnörkelschrift zwei Worte, die er nicht entwirren konnte. Er überlegte, den Brief der Kellnerin zu geben, falls der alte Mann später zurückkommen und nach ihm fragen würde, dann überkam ihn aber die Neugierde und er öffnete ihn. Er fand darin eine blaue Karte, klappte sie auf und konnte seinen Augen nicht trauen, links stand mit unsicherer Handschrift geschrieben: „Für meinen geliebten Enkel, A. D.“ und daneben lagen zwei fünfhundert Euro Scheine. Mit zitternden Händen schob er die Scheine zurück in den Umschlag und den Umschlag in seine Jacke. Dann stand er auf, verließ das Café ohne sich noch einmal umzudrehen und ging mit schnellen Schritten dem Bahnhof entgegen.
 
 

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Eine Antwort auf Der Ring des Großvaters

  1. Michael sagt:

    Sehr schöne Kurzgeschichte.

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