Die Taube am Fenster

 

Der Wind heulte oft um das Wohnheim J4 in G. Wenn David auf dem Bett lag, zog er seine Decke noch ein Stückchen höher, bis zum Kinn. Obwohl das Fenster geschlossen war, kroch stets ein kalter Hauch zu ihm hinüber. Sein Zimmer war klein und quadratisch. Vom Schreibtisch aus war es nur eine halbe Drehung bis zum Regal, von dort noch zwei Schritte bis zum Bett und noch zwei weitere Schritte zur Küchenzeile. Vor sieben Wochen war er hier eingezogen. Das Gebäude war grau und alt und das Licht in den Fluren öfters defekt, aber die Miete war günstig und er wollte seinen Vater nicht um einen größeren Zuschuss bitten. Schließlich lebte der in einer nicht viel größeren Wohnung.
Als er gerade eingezogen war, wollte David das Beste draus machen. Er wartete darauf, seine Nachbarn auf dem Flur oder im Waschkeller zu treffen, sich vorzustellen, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Aber die Tage vergingen und er hörte keine Stimmen draußen auf dem Gang, nur hin und wieder eilige Schritte und zufliegende Türen. Einmal sprach er eine junge Frau an, die gerade eine Karte aus ihrem Briefkasten holte. Er sagte, er wohne jetzt auch hier. Sie zuckte mit den Schultern, sagte mit osteuropäischem Akzent, „nicht verstehen“ und ging eilig die Treppe hinauf.
Inzwischen hatte er es aufgegeben, seine Nachbarn kennen lernen zu wollen und bemerkte, wie auch er allmählich mit schnelleren Schritten in seinem Zimmer verschwand. An einem Regentag im November, als er gerade mit einer Tasse Tee über ein Buch gebeugt am Schreibtisch saß, schreckte ihn ein klopfendes Geräusch auf. Etwas verwundert drehte er seinen Kopf erst zur Tür, merkte aber dann, dass das Klopfen vom Fenster kam. Er schaute hinüber und sah auf dem Fensterbrett eine Taube sitzen und mit dem Schnabel gegen die Scheibe picken. Sie hatte weiße Federn, nur der Kopf war übersäht mit schwarzen Flecken. David führte seinen rechten Zeigefinger zum Glas hin, auf die Höhe des Schnabels und klopfte mit dem Fingernagel zurück, so dass ein leises Klacken zu hören war. Die Taube blieb daraufhin still hinter dem Fenster sitzen. Aber sobald David aufhörte mit dem Finger die Scheibe zu berühren, begann sie wieder ihren Schnabel gegen das Glas zu führen. So ging das Spiel eine Weile, bis das Geräusch eines Flugzeugs das Tier erschreckte und zur Flucht trieb. In den nächsten Tagen hoffte David darauf, dass die Taube wieder kommen würde. Wenn er nach den Vorlesungen in sein Zimmer kam, öffnete er das Fenster und schaute in alle Richtungen, ob er sie irgendwo entdeckte und auch vor dem Einschlafen sah er noch manches Mal zum Fenster hinüber. Als sie ein paar Tage nicht aufgetaucht war, begann er kleine Brotkrummen, die er von seinem Schinkenbrot abgerieben hatte, vor das Fenster zu legen. Und tatsächlich kurze Zeit später, saß die Taube wieder auf dem Fensterbrett und sammelte mit ihrem kleinen, spitzen Schnabel vergnügt die Nahrung ein. Bevor sie wieder davon flog, pickte sie wie zum Gruß noch drei Mal gegen das Glas. Von da an, legte ihr David jeden Abend ein paar Krummen von seinem Abendessen vor das Fenster und jeden Abend zeigte sie sich, immer zu gleichen Zeit.
An einem Samstag Ende November hatte David Geburtstag. Er hätte gerne mit Freunden zusammen gesessen, gemeinsam eine Flasche Wein getrunken, über das Leben philosophiert und über die Welt. Aber es war Wochenende und seine Kommilitonen wollten nach Hause fahren zu ihren Eltern oder Freundinnen und als er sie am Mittwoch fragte, hatten sie ihre Pläne schon gemacht. So verbrachte er den Samstag allein, ging durch trübes Herbstwetter spazieren und kaufte sich am Rückweg eine Flasche Rotwein. Zurück in seinem Zimmer öffnete er den Wein und trank ihn aus seinem schönsten Wasserglas. Die tiefrote Flüssigkeit hinterließ ein warmes Gefühl in seinem Bauch. Er ging in seine Küchenzeile und begann Kartoffeln und Gemüse zu schälen, was er noch nie in diesem Zimmer getan hatte. Er füllte die Zutaten zusammen mit dem Hackfleisch und der Käsesauce in eine Glasschüssel und stellte sie in den Backofen. Da er sich bisher zum Abendessen stets mit belegten Broten begnügt hatte, hatte er diesen noch nicht ausprobiert. So hoffte er, dass nicht auch dieses Gerät ihn heute enttäuschen würde. Er zündete ein Streichholz an, führte es an das kleine runde Loch im Boden des Ofens und drehte den Schalter um. Erst tat sich nichts. Aber beim dritten Streichholz sprang doch die Flamme an. Zufrieden schloss er den Ofen und machte es sich mit einem Block und dem Rotwein auf seinem Bett gemütlich. Sein Vater hatte ihm eine Karte geschickt, einen gedruckten Gruß, unter den er mit ungeübter Hand NORBERT geschrieben hatte. Nun war David in der Stimmung selbst einen Brief zu schreiben, so wie er es früher öfters getan hatte, einen langen Brief, an seine Freundin von damals, Anna. Sie hatte ihn doch immer verstanden, sie hätte nicht fortgehen sollen. Er setzte seinen Füller auf das Papier, doch geriet sogleich ins Stocken, allein die Anrede musste gut überlegt sein, er griff nach dem Wasser-Wein-Glas und trank, die Augen weiter auf das weiße Papier gerichtet.
Als er eine halbe Seite geschrieben hatte, war die Weinflasche leer. Sein Kopf fühlte sich schwer an und seine Augen müde. Er legte den angefangenen Brief zur Seite und zog sich die Bettdecke über die Schultern. Nur ein bisschen ausruhen, dachte er. Als er die Augen schloss, war es erst dunkel um ihn herum, dann sah er die Bilder von Anna, ihren gemeinsamen Ausfügen, ihren Sonntagen am See. Sie sitzen gemeinsam in einem Ruderboot und er rudert und sie lachen, weil die anderen Boote sie alle überholen. Sie hat ihm zum Geburtstag einen Kuchen gebacken mit Schokoladenguss und Kirschen oben drauf.
Ein Klopfen riss David aus seinen Traumgedanken. Er schaute auf und sah seine Taube hinter dem Fenster sitzen. Ihm fiel ein, dass er heute ganz vergessen hatte, ihr Brotkrummen hinzulegen, doch dann bemerke er plötzlich den Gasgeruch, der das Zimmer erfüllte. Benommen torkelte er zum Fenster, riss es auf, eilte zum Backofen, die Flamme war ausgegangen, nur das Gas strömte weiter. Er stellte den Ofen aus und ging zurück zum Fenster. Die Taube war inzwischen verschwunden. Er lehnte sich weit hinaus in die kühle Nacht und atmete erst unruhig, dann langsam und tief.
 
 

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