Leihexemplar

 

Manchmal scheint die Sonne zu warm, verbrennt deine Haut, so wie die meine heute Mittag, im Stadtpark, während ich auf der Wiese sitze, dein Buch lese. Du hast es mir ausgeliehen, schon vor einer Weile. Es ist dein Lieblingsbuch, hast du gesagt, deshalb hast du zwei davon, eines für Freunde und eines nur für dich. Das brauchst du, schließlich weiß man nie, wie man ein Buch zurückbekommt. Mit Kaffee-, Wein- oder Tortenflecken und manchmal fehlen Seiten.
Das Buch, das ich nun habe, ist dein Leihexemplar. Ich darf es mit ins Freie nehmen und Sätze unterstreichen, die ich nicht verstehe oder besonders gut finde oder beides zur gleichen Zeit. Ich darf es in meiner Handtasche mit mir tragen, auch ohne Schutzumschlag. Aber in der S-Bahn müsse ich aufpassen, dass ich es nicht liegen lasse, wenn ich die Haltestelle einmal zu spät bemerke und dann überstürzt durch die Menschenmenge hindurch ins Freie dränge.
In der Eile passieren Fehler.
Ich lese und blättere Seite für Seite der Buchmitte entgegen, hinweg über grau und rot markierte Sätze. Mir begegnet Kien, sein Wahn, seine Wohnung, seine riesige Bibliothek. Meine Augen gleiten über die Zeilen vorbei an Therese, eine gierige und kräftige Person. Kien fängt an ihr zu vertrauen, was ihm später zum Verhängnis werden soll. Das hast du mir erzählt, als du auf der Leiter standest und mit einem Griff das Buch aus dem Regal genommen hast.
In vier Stunden werde ich in deiner leeren Wohnung stehen, zwischen gepackten Umzugskartons und deinen Freunden. Rotwein aus Plastikbechern. Die Gläser hast du schon in Zeitungspapier gewickelt. Nicht in die Anzeigen, sondern in „Panorama“ oder „Aus-aller-Welt“. Beim Auspacken liest du gerne die alten Artikel, nicht mehr als Nachrichten, dafür als Geschichten. Du zeigst Bilder von einem Landhaus. Jemand fragt, wie lange du dort bleiben willst, auf der Insel, wo es so oft regnet. Du weißt es nicht und zuckst mit den Schultern und schaust dabei zu mir herüber, nur kurz.
Die Buchstaben lösen sich vom Papier. Bilden keine Sätze mehr, sondern schwarze Figuren, Vögel, die fliegen, ich schaue ihnen hinter her, zum Himmel, geblendet kommt mein Blick zurück. Ich nehme meinen grünen Stift und unterstreiche die Worte, die soeben zum Leben erwacht sind. Dann schlage ich das Buch zu und mache mich auf den Weg zum Bahnhof.

 

 

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