Herr Meyer und das Meer

Herr Meyer will das Meer sehen und packt seinen Koffer, einen kleinen braunen, mit zwei Messingschnallen daran. Er fährt mit dem ersten Zug um 6:23 Uhr. Während der Fahrt schaut er aus dem Fenster, sein Nacken ist starr, auch sein Blick, der Schaffner denkt, er würde schlafen und fragt ihn nicht nach seiner Fahrkarte. Dabei schläft Herr Meyer nie, wenn er das Haus einmal verlassen hat, seine Augen sind immer offen, zumindest einen Spalt breit, einen kleinen Spalt.

Als er das letzte Mal das Meer gesehen hatte, war er ein kleiner Junge, er stand in seiner kurzen blauen Hose neben seinem Vater am Strand und er fror, weil der Wind noch kalt war im März. Sie hatten hinausgeschaut aufs Wasser und dabei zugesehen, wie die Segelboote vom nahe gelegenen Steg ablegten und sich langsam vom Ufer entfernten. Ein Boot hatte eine rote Fahne, ein Piratenboot, hatte er gedacht, damals.

Jetzt war er alt, seine Haare grau und sein Vater tot. Er hatte keine Familie und keinen Sohn, den er hätte mitnehmen können. Daher fuhr er allein, immer ein bisschen auf der Hut, den Kragen seines grauen Mantels hochgestellt, mit geknicktem Nacken seinen Hals, sein Kinn darin verborgen. Im Schutz der dunklen Höhle aus Stoff.

An der letzten Station stieg er aus, es schien als sei er der letzte Reisende in diesem Zug, an diesem Tag. Der Bahnhof war klein, zwei Gleise, ein Kiosk, ein Fahrkartenautomat. Ein Mann mit oranger Jacke kehrte mit einem Besen bis zum Filter abgerauchte Zigarettenstummel und den dunklen Dreck vom Asphalt zusammen. In gleichmäßigen Bewegungen, begleitet von einem steten metallischen Kratzen.

Herr Meyer will das Meer sehen. Er geht an dem Mann vorbei, an dem Kratzen, hinaus auf die kleine Hauptstraße, die vor dem Bahnhof liegt. Die Häuser sehen anders aus als früher, aber er kennt den Weg, seine Beine laufen ohne zu Zögern in die richtige Richtung, während der kalte Wind ihm in den Kragen seines Mantels kriecht.

An einer Kreuzung bleibt er kurz stehen, obwohl kein Auto zu sehen ist. Er schaut auf seine Armbanduhr, es ist inzwischen viertel nach zwölf. Der Koffer wiegt schwer in seiner Hand. Mit gleichmäßigen Schritten setzt er seinen Weg fort.

Das erste, was ihn an früher erinnert, sind die Möwen, die schreien und sich ins Wasser stürzen. In seine glattbraunen Lederschuhe rutscht der Sand, während er den Dünenberg hinab zum Ufer läuft. Auf halben Weg zum Steg bleibt er stehen. Ein Segelboot liegt vor ihm im Wasser, bereitet sich auf seine Abfahrt vor. Er erkennt das Boot mit der roten Fahne und ein kurzes Lächeln zuckt über seinen Mund. Er will darauf zulaufen, da sieht er plötzlich von rechts zwei Gestalten auf den Steg zugehen, einen Vater und seinen Sohn. Sie bleiben nicht am Strand stehen, sondern gehen direkt zum Steg. Der Junge trinkt Cola aus der Dose und zieht die braune Flüssigkeit gierig durch einen Strohhalm aus gelbem Plastik. Vor dem Boot bleiben die beiden stehen. Der Bootsmann spricht sie an, die drei lachen. Der Junge stellt die Dose auf dem Steg ab und holt sein Smartphone aus der Hosentasche. Er fotografiert die Fahne, sich selbst, den Mann und den Vater. Dann steigen Vater und Sohn zu dem Mann ins Segelboot, das sich kurz darauf vom Ufer entfernt.

Herr Meyer stellt seinen Koffer in den Sand. Er schaut ihnen nach, bis die Fahne nicht mehr zu erkennen ist, bis er nur noch das Meer sieht, den weißen Steg und die rote Dose, die in der Sonne glitzert.

 

 

Veröffentlicht unter Allgemein | Hinterlasse einen Kommentar

Der Ring des Großvaters

Es war schon eine ganze Zeit lang vergangen seit Nils das letzte Mal den Ring seines verstorbenen Großvaters Alfred aus der Schublade herausgenommen und betrachtet hatte. Der Ring war golden und groß, zu groß für Nils Finger und hatte auf der Innenseite die Initialen A. D. eingraviert. Als der Großvater wusste, dass er bald sterben würde, hatte er alle Familienangehörige nacheinander zu sich gerufen. Er wollte mit jedem einzeln sprechen. Zu Nils hatte er gesagt, er solle ein guter Mensch sein und ihm dann seinen Ring gegeben. Diesen könne er benutzen, wenn er einmal in Not sei, der werde ihm helfen, aber eines müsse er versprechen, dass er ihn nicht verkaufe. Nils verstand jene Worte nicht recht, aber er drückte die faltige Hand des alten Mannes und nickte.
 
Es war an einem achten Februar, als Nils wie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Redaktion des Städtischen Anzeigers von B. fahren wollte. Doch diesmal stand es nicht vor seiner Haustür, gegen einen Laternenpfahl gelehnt. Dort befand sich nur noch das durchgetrennte schwarze Schloss. Nils trat dagegen und fluchte, dann sah er auf seine Armbanduhr. Er würde zur spät kommen, das wusste er, denn die nächste Straßenbahn fuhr erst in einer halben Stunde. Widerwillig machte er sich zu Fuß auf den Weg. Nachdem er durchgefroren in der Redaktion angekommen war, legte ihm sein Chef einen Stapel Berichte auf den Schreibtisch, zum Überarbeiten, sagte er, mit etwas vorwurfsvollem Blick.
Als Nils gerade dabei war, sich durch seine rot markierten Texte zu kämpfen, klingelte das Telefon. Er sah eine englische Nummer auf dem Display. Das ist Susanne, dachte er und lächelte. Seit seine Freundin für ein Auslandssemester nach London gegangen war, hatten sie wieder angefangen sich Briefe zu schreiben und oft zu telefonieren. Inzwischen war die Zeit lang geworden und er freute sich darauf, dass sie in zwei Monaten wieder in der gemeinsamen Wohnung nebeneinander einschlafen würden. Nils nahm den Hörer ab. Doch wider erwarten erkannte er nicht Susannes Stimme am anderen Ende der Leitung. Er hörte ein Rauschen und dann eine kratzige Männerstimme, die schnell redete. Anfangs verstand er nur einzelne Worte „Susan“, „hospital“, „it was an accident“. Dann begann er zu verstehen. Susanne lag im Krankenhaus. Sie hatte einen Unfall gehabt, morgens im Berufsverkehr. Sie war spät dran, wollte ihren Bus noch erreichen. Sie ist über die Straße gelaufen und das Auto konnte nicht rechtzeitig bremsen. Nils schrieb mit zitternden Fingern den Namen des Krankenhauses auf einen Zettel und legte auf. Was er eben erfahren hatte, wurde in seinem Kopf zu Bildern, die er nicht ertragen konnte. Er stand auf, nahm seine Jacke und verließ das Büro, während sein Chef mit wütender Stimme etwas hinter ihm her rief.
Er rannte durch die Kälte nach Hause. Sein Herz raste und er hatte nur den einen Gedanken im Kopf: ich muss zu ihr, sofort. In der Wohnung angekommen, startete er seinen Laptop und suchte nach der nächsten Flugverbindung. Bis nach München zum Flughafen würde er zwei Stunden brauchen. Er sah auf die Uhr, inzwischen war es halb elf, ab 13:00 konnte er abfliegen. Er gab die Suche ein und wartete, Sekunden, die ihm zu lang vorkamen. Dann das Ergebnis, in einem Flieger um 15:30 Uhr gab es noch freie Plätze, allerdings nur in der ersten Klasse, in einer Maschine um 17:00 Uhr konnte er noch für 900€ ein Ticket buchen. Nils fluchte laut auf, normalerweise waren die Flüge nach London billiger als die Zugfahrt zum Flughafen. Und gerade jetzt war sein Konto schon bis zum Limit überzogen hatte, weil die Redaktion immer weniger Artikel von ihm druckte und weil er schon seit einem Jahr versuchte die Kaution von seiner alten Wohnung zurück zu bekommen. Aber das war jetzt egal, er musste zu ihr, egal zu welchem Preis. Er holte seine Kreditkarte hervor, wählte den Flug um 15:30 aus, gab seine Nummer ein, drehte die Karte um, da stockte ihm der Atem. Das Gültigkeitsdatum war seit einem Monat abgelaufen. Die letzten Male hatte Susanne ihn besucht und als er im September zu ihr geflogen war, hatte er nicht auf das Datum geachtet. Er klappte den Laptop zu und stand auf, ging in der Wohnung auf und ab, trank ein Glas Leitungswasser, machte ein Fenster auf und dann wieder zu. Da fiel ihm der Ring seines Großvaters ein. Er ging zu der Kommode im Schlafzimmer und fand ihn dort in der dritten Schulbade liegen. Er drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Vielleicht würde er genug Geld dafür bekommen, genug für ein Flugticket. Er steckte den Ring in seine Hosentasche und ging in die nahe gelegene Altstadt. In einer der Gassen fand er einen Juwelier mit einem Schild „An- und Verkauf von Goldschmuck“ im Schaufenster. Über einen roten Teppich ging Nils hinein, wobei er beim Gehen leicht einsackte. Der Ladenbesitzer stand hinter einer Glasvitrine, in der verschiedene Ketten ausgestellt waren und lächelte ihn zur Begrüßung freundlich an. „Ich habe einen Ring“, sagte Nils, „den möchte ich gerne verkaufen“. Der Mann holte ein gepolstertes Tablett unter der Theke hervor. Nils zögerte für einen Moment, es war ihm als spürte er noch einmal den Händedruck seines Großvaters, aber dann legte er den Ring vor dem Verkäufer nieder. Dieser nahm ihn mit der linken Hand führte ihn dicht vor sein Gesicht, kniff das linke Auge zusammen und betrachtete ihn durch ein kleines Vergrößerungsglas, das er vor sein rechtes Auge hielt. Nach ungefähr einer Minute, in der er abwechselnd Nils und Ring betrachtet hatte, ließ er letzteren sinken. „Ich gebe Ihnen 20 Euro dafür“, sagte er, „der Ring ist bloß vergoldet.“ Nils nahm das Erbstück wortlos aus der Hand des Mannes und verließ den Laden. Er streifte durch die Gassen und ging dann in ein Café, um sich aufzuwärmen. Als die Bedienung fragte, was er trinken wolle, zeigte er nur mit dem Finger auf die Karte, wo Kaffee stand. Er konnte jetzt nicht sprechen. Die Bedienung nickte daraufhin und verschwand in der Küche.
Außer ihm waren nur wenige Gäste im Café. An einem Tisch im hinteren Teil des Raums saß ein alter Mann und zwei Tische von ihm entfernt eine Frau mit ihrer vielleicht achtjährigen Tochter. Nils sah die anderen Leute nur kurz an und dann wieder weg. Dann zog er den Ring aus seiner Hosentasche hervor. In seiner Handfläche liegend betrachtete er ihn. „Und du hättest mir also helfen sollen“, murmelte er spöttisch und enttäuscht zugleich. Er probierte den Ring an den Fingern seiner rechten Hand, er passte nirgends, rutschte ihm auch am Mittelfinger wieder hinunter, so groß war er. Wer hat denn solche Finger, dachte Nils, und schob sich den Ring über den Daumen, wo dieser ihm zumindest annähernd passte. In Gedanken an Susanne drehte er den Ring noch ein paar Mal an seinem Finger. Da verließ der alte Mann das Café, streifte ihn im Vorbeigehen mit seinem Mantel und riss ihn mit dieser Berührung aus seinen Gedanken. „Passen Sie doch auf,“  wollte Nils erst sagen, doch da sah er einen Briefumschlag aus dem Mantel des Alten heraus gleiten. Nils hob ihn auf und drehte sich um, doch der Alte war bereit verschwunden. Er lief zur Tür, machte sie auf und schaute auf den Platz hinaus, doch konnte er den Herren in keiner Richtung erblicken. So ging er zurück zu seinem Platz und betrachtete den Umschlag. Er war weiß, nur in der Mitte standen in schwarzer Schnörkelschrift zwei Worte, die er nicht entwirren konnte. Er überlegte, den Brief der Kellnerin zu geben, falls der alte Mann später zurückkommen und nach ihm fragen würde, dann überkam ihn aber die Neugierde und er öffnete ihn. Er fand darin eine blaue Karte, klappte sie auf und konnte seinen Augen nicht trauen, links stand mit unsicherer Handschrift geschrieben: „Für meinen geliebten Enkel, A. D.“ und daneben lagen zwei fünfhundert Euro Scheine. Mit zitternden Händen schob er die Scheine zurück in den Umschlag und den Umschlag in seine Jacke. Dann stand er auf, verließ das Café ohne sich noch einmal umzudrehen und ging mit schnellen Schritten dem Bahnhof entgegen.
 
 

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | 1 Kommentar

Eine weiße Rose

Lara lebte mit ihrer Mutter in der Kleinstadt V. Seit ihr Vater vor einigen Jahren fortgegangen war, wohnten sie in einer kleinen Wohnung am Waldrand. Die Mutter arbeitete als Altenpflegerin in einem nahe gelegenen Heim. Sie arbeitete viele Stunden am Tag, machte oft Überstunden und übernahm Sonderschichten, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu verdienen. Dennoch war das Geld oft knapp. Lara störte das sehr, besonders wenn sie nach den Ferien wieder in die Klasse kam und die Schulkameraden wild durcheinander redeten, von ihren Reisen im Sommer oder von den Geschenken, die sie zu Weihnachten bekommen hatten. Lara saß dann in der hintersten Reihe und schaute aus dem Fenster und wartete bis sich die ganze Aufregung gelegt und wieder Normalität in den Klassenraum eingekehrt war.
Laras Schule lag zehn Kilometer entfernt in der Nachbarstadt G. Zwar gab es auch in ihrem Heimatort eine Schule. Aber die Mutter wollte, dass sie auf eine gute Schule ging. Das sei wichtig für später. Jeden Morgen nahm Lara um 7:00 Uhr das Schulbrot vom Frühstückstisch, das ihr ihre Mutter zwei Stunden zuvor belegt hatte, mit Butter, Käse und dünnen Gurkenscheiben und machte sich auf dem Weg zum Bus. So auch an jenem 12. November vor 13 Jahren. Es war kalt draußen und noch dunkel. Lara zog sich den Schaal vors Gesicht, um sich vor der Kälte zu schützen. An der Haltestelle stand der Bus schon abfahrbereit. Sie stieg ein, streifte die anderen Kinder mit einem flüchtigen Blick und setzte sich in die fünfte Reihe, auf den linken Platz am Fenster, ihren Stammplatz. Heute war der Geburtstag ihrer Mutter, dachte sie, als der Bus sich in Bewegung setzte. Sie würde ihr gerne etwas schenken. Aber sie wollte nicht wie jedes Jahr, mit einer Glückwunschkarte in der einen und einer Rose in der anderen Hand vor ihr stehen. Jedes Jahr zum Geburtstag wünschte sich ihre Mutter eine weiße Rose. Dies war ihre Lieblingsblume. Lara wusste zwar nicht, warum, sie selbst fand rote oder gelbe Rosen viel schöner, aber sie erfüllte ihrer Mutter dennoch jeden November diesen Wunsch. Dieses Jahr hätte sie ihr gerne ein anderes Geschenk gemacht, ein Parfum oder Pralinen für sie gekauft. Aber dafür reichte ihr weniges Taschengeld nicht aus. Sie wühlte in ihren Jackentaschen, fand dort jedoch nur 80 Cent in kleinen Münzen und seufzte leise.
Den Schultag über vergas sie die Sorgen um das Geschenk und freute sich über ihre gute Note im Biologietest und darüber, dass Marie sie gefragt hat, ob sie in ihr Freundschaftsbuch reinschreiben möchte.
Nach dem Unterricht blieb sie noch ein bisschen länger im Klassenraum sitzen, um die Geburtstagskarte für ihre Mutter fertig basteln. Dabei vergas sie, auf die Uhr zu sehen und als sie es doch tat, war es schon viertel nach zwei. Sie rannte aus dem Gebäude, über den leeren Schulhof, hinüber zur Haltestelle, aber der Bus war bereits auf seinem Weg nach V. Der nächste würde erst in einer Stunden fahren. Sie schaute sich um, aber zurück ins Schulgebäude wollte sie jetzt nicht mehr gehen. So kahl und verlassen, wie es da im Nebel vor ihr lag, war es ihr nun ein bisschen unheimlich. Sie wusste zwar, dass der alte Hausmeister Bertram noch dort sein musste, aber gerade ihm und seinem schwarzen Hund wollte sie nicht alleine begegnen. Also machte sie sich auf den Weg in die Innenstadt. Sie ging an einem See vorbei, beobachtete die Enten, die am Ufer saßen, dicht beisammen. Schließlich fand sie einige Geschäfte, einen Buchladen, einen Frisör und einen Blumenladen. In diesem ging sie hinein. Da sie ja jetzt Zeit hatte, bis der nächste Bus kam, konnte sie auch in G. die Rose für ihre Mutter kaufen. Die alte Frau hinter der Theke grüßte sie freundlich mit einem Nicken und schaute sie mit ihren dunkeln tief blauen Augen an. Ihre grauen Haare hatte sie an ihrem Hinterkopf hochgesteckt. Obwohl sie sich nicht bückte war ihr Rücken auffällig krumm. Vor dem Bauch trug sie eine grüne Schürze mit zwei kleinen Taschen an den Seiten.
            „Was kann ich für dich tun, mein Kind?“ fragte die Alte schließlich.
„Ich hätte gerne eine weiße Rose“, sagte Lara, „für meine Mutter, sie hat heute Geburtstag. Sie wünscht sich immer eine weiße Rose von mir.“ Die alte Frau lächelte, ging mit schlurfenden Schritten quer durch den Laden und nahm weiße Rose aus einer der vielen Vasen. „Ich mache dir die Dornen unten am Stil ab, damit du dich nicht verletzt, sagte sie“, als sie wieder hinter der Theke angekommen war. Aus einer Schublade zog sie ein kleines Messer hervor. Mit sanften Bewegungen fuhr sie damit am Stiel entlang. Als sie damit fertig war, streckte Lara ihr ihre Münzen entgegen. Die alte Frau öffnete die Kasse mit einem klirrenden Geräusch. Doch dann zögerte sie und lächelte erneut. „Lass, mein Kind, ich schenke sie dir.“ In diesem Moment verzog die Alte ihr Gesicht. Sie fasste sich ans Herz und öffnete ihren Mund, ganz weit, als ob sie etwas rufen wollte, aber dann stieß sie nur ein leises, kaum hörbares „hol Hilfe“ hervor, bevor sie besinnungslos zu Boden sank. Lara blieb stehen. Sie starrte die Alte an. Sie flüsterte „Hallo?“, aber bekam keine Antwort. Sie versuchte es erneut, diesmal etwas lauter, brach aber erschrocken über ihre eigene Stimme nach der ersten Silbe ab. Unter ihrer Winterjacke begann sie zu schwitzen. Die Alte bewegte sich nicht. Ängstlich trat sie erst einen Schritt nach vorne und dann noch einen. Der Schaal kratze an ihrem Hals. Sie wollte nach der weißen Rose greifen, die bereits von Dornen befreit vor ihr lag. Da sah sie die Geldscheine in der offenen Kasse. Ihre Augen zuckten, ihre Finger, zwei Mal, dann griff sie zu. Steckte die Scheine tief in ihre Taschen, riss die Blume von der Theke und eilte aus dem Laden hinaus, ohne noch einmal nach der Alten zu sehen..
Als der Bus kam, war sie erleichtert, endlich aus G. wegzukönnen. Weil ihre Mitschüler bereits vor einer Stunde nach Hause gefahren waren, saßen nur wenige Fahrgäste in dem Bus: Außer ihr eine Frau mit ihrem kleinen Sohn und ein Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen trug. Sie war so aufgeregt, dass sie gar nicht bemerkte, dass jener Unbekannte in der fünften Reihe auf dem linken Platz am Fenster saß. Sie setzte sich zwei Reihen hinter ihn und schaute nach draußen. Ihre Mutter wartete bestimmt schon auf sie. An ihrem Geburtstag kommt sie immer früher von der Arbeit nach Hause, so dass sie zusammen den Nachmittag verbringen können. Lara fühlte den weichen Stiel in ihrer Hand. Wenigstens hatte sie die Rose als Geschenk. Im Vorbeifahren sah sie den dichten Tannenwald, traurig hängende Zweige. Auf einer Lichtung entdeckte sie ein Reh. Für einen Moment zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Als der Bus endlich das Ortsschild von V. passierte, wandte sie den Blick vom Fenster ab. Da stockte ihr der Atem, ihre Lippen begannen zu zittern. Sie kniff ihre Augen zusammen, riss sie aber sofort wieder auf. Sie musste es sehen: die Rose in ihrer Hand hatte schwarze Blätter.

 

 

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Marthas Toaster

Vor drei Jahren waren Markus und seine Frau Sarah in ihre neue Wohnung im Vorort D. gezogen, weil sie hier einen kleinen Garten hatten, mit Himbeeren und Tomaten und weil Markus Tante Martha in der gleichen Straße lebte. Seit seine Eltern vor siebzehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war sie seine einzige Verwandte. Da sie nun älter wurde, wollte er gerne wieder in ihrer Nähe wohnen. Mit der Zeit wurde Marthas Gesundheit schlechter, sie lief nur noch langsam, stets auf ihren Holzstock gestützt. Er war froh, dass Sarah sich so gut mit seiner Tante verstand, ihr öfters eine Suppe kochte und regelmäßig nach dem Rechten sah, auch wenn er abends mal wieder lange in der Kanzlei bleiben musste. Wenn sie am Wochenende im Wohnzimmer alle zusammen saßen bei Kaffee und Apfelkuchen, dann stellte Martha ihren Stock beiseite und erzählte ihm ohne Pause, von früher, ihrer Jugend, ihren Freunden und den Ferien, dem Badesee und ihrer ersten Liebe. Manchmal sprach sie so schnell, dass sie sich verschluckte und husten musste. Markus legte ihr dann erst die Hand auf den Rücken und nahm sie dann in den Arm. Und während sie sich beruhigte, rollten ihr ein, zwei Tränen über ihre Wangen.
Ein halbes Jahr später war Martha überraschend verstorben. Es war Anfang November. Als sie ihr Hausarzt wie jeden Dienstagvormittag besuchte, fand er sie leblos im Bett liegen. Sie sei friedlich eingeschlafen, hat er gesagt, so wie sie es sich immer gewünscht hat.
Als Markus in den darauf folgenden Wochen das kleine Haus von Martha ausräumte, fiel es ihm schwer, sich von den alten Sachen zu trennen: von dem Sofa mit dem brauen Bezug, auf dem sie so oft zusammen gesessen und erzählt hatten, von der mächtigen Standuhr im Flur, die an jede volle Stunde mit einem lauten Gong erinnerte und von den vielen Büchern aus ihrem Regal, von denen er weder die wenigen Autoren kannte, noch die zahlreichen Titel, die sie geschrieben hatten und die alle ein bisschen ähnlich klangen. Aber der Geruch der Bücher war ihm vertraut. Vieles hätte er gerne behalten, aber Sarah überzeugte ihn schließlich, dass es das Beste sei, sich von den alten Sachen zu trennen, ihre Wohnung sei zu klein für die mächtigen Möbel. Und schließlich habe er das Wichtigste – die schönen Erinnerungen – immer bei sich, in seinem Herzen. Als die Wohnung nach zwei Wochen ganz leer war, hatte Markus fast alles weggegeben. Nur den alten Toaster hatte er behalten, auch wenn Sarah skeptisch die Stirn runzelte, als sie ihn das erste Mal in ihrer Küche sah. Der Toaster war aus silbernem Blech und hatte seine besten Tage bereits hinter sich; aber er funktionierte noch, was Markus selbst ein bisschen wunderte, schließlich hatte er ihn bereits während er sich auf das Abitur vorbereitete, jeden Morgen benutzt.
Seit damals hatte er lange kein geröstetes Brot mehr gegessen. In seiner Studentenbude in L. hatte er keinen Toaster. Und nach 14 Semestern hatte er die alte Gewohnheit vergessen, so dass er auch in der gemeinsamen Wohnung mit Sarah nie einen solchen vermisst hatte.
Aber nachdem Martha beerdigt war und der silberne Toaster seinen Platz neben dem Herd gefunden hatte, erinnerte er sich an früher. Von nun an begann er sich jeden Morgen zwei Scheiben Weißbrot zu toasten und wie damals dünn mit Erdbeermarmelade zu bestreichen. Sarah aß wie bisher Müsli mit Früchten und Quark. Beim Anblick des Toasters schüttelte sie noch manchmal den Kopf. Neben der neuen Einbauküche und der weißen Mikrowelle wirkte er noch etwas älter als er bereits war. Aber sie sagte nichts. Und die Wochen vergingen.
In der Adventszeit schien der Toaster dann einen Schaden zu haben. Jedes Mal, wenn Markus in benutzte, kam die Brotscheibe nicht gleichmäßig geröstet aus dem Gerät heraus: während ein Großteils der Scheibe wie bisher goldbraun schimmerte, waren in der Mitte derselben kleine verbrannte Flecken zu sehen. Markus versuchte erst die Stufen zu wechseln, drehte von vier auf 2 hinunter und wieder hinauf. Aber nichts veränderte sich. So wurde es für ihn zur morgendlichen Routine, dass er mit seinem Messer zunächst über die getoasteten Brotscheiben kratze, um das Verbrannte zu entfernen. Doch wunderte er sich mit der Zeit, dass die verbrannten Stellen jeden Tag ein bisschen anders aussahen und manchmal glaubte er Muster und sogar Buchstaben darin zu erkennen. Das sei Unsinn, sagte Sarah, er habe schon immer ein bisschen zu viel Phantasie gehabt, er solle das kaputte Gerät entsorgen. Da Markus an dem Erbstück hing, brachte er es kurz vor Weihnachten zur Reparatur. Als er es am Weihnachtsmorgen abholte, war er auf die Rechnung gespannt, aber noch viel mehr auf die Erklärung. Der Angestellte der Werkstatt, ein junger Bursche mit roten lockigen Haaren und Sommersprossen im Gesicht, gab ihm jedoch den Toaster zurück ohne einen Cent zu verlangen. „Das Gerät ist vollkommen in Ordnung“, sagte er, „Sie müssen es verwechselt haben. Sie können uns ja nach den Feiertagen ihren kaputten Toaster vorbeibringen.“ „Nein, nein, ich habe mich nicht geirrt,“ entgegnete Markus „ich habe nur diesen einen und der verbrennt die Brotscheiben in der Mitte, jedes Mal.“ Der Bursche schaute ihn etwas ungläubig an, während er das Gerät an die Steckdose anschloss, aus einem Seitenschrank zwei Schreiben Weißbrot hervorholte, sie in die Schlitze fallen ließ und mit einer Daumenbewegung in das silberne Objekt versenkte. Die Drähte begannen zu glühen. Drei Minuten später sprangen die Brotscheiben wieder hinaus. Der Rothaarige legte sie erst auf den Tisch und drehte sie dann noch einmal um. Sie waren geröstet, aber nicht verbrannt, an keiner Stelle.
Markus trug den Toaster unter dem Arm nach Hause. Auf dem Weg schüttelte er immer wieder den Kopf. Vielleicht hatte er zuviel gearbeitet in der Anwaltskanzlei. Die vielen Überstunden, das konnte ja nicht auf Dauer gut gehen. Sarah hatte bestimmt Recht, wenn sie ihm sagte, er solle sich öfters mal entspannen, sich eine Auszeit gönnen. Zu Hause angekommen ging er in die Küche. Er sah durch das Fenster er in den Garten. Sarah stand an der Hecke und schnitt mit ihrer grünen Gartenschere die Zweige zurecht. Er lächelte als er sie so beobachtete. Ihre blonden Haare hingen ihr über den Wintermantel. Sie gab sich immer so viel Mühe mit dem Garten, gerade vor den Feiertagen. Alles sollte sauber sein und seine Ordnung haben. Wenn der Boden nicht gefroren wäre, würde sie jetzt auch noch Unkraut rupfen, dachte er und wendete seinen Blick wieder dem Toaster zu.
Er wollte es erneute versuchen, steckte zwei Weißbrotscheiben hinein. Als sie ihm kurze Zeit später entgegen sprangen, stieß er einen heftigen Schrei aus. Die Scheiben waren wieder verbrannt in der Mitte, auf beiden Seiten. Doch diesmal konnte er ganz deutlich Buchstaben darin erkennen und aus den Buchstaben Silben und Wörter: „Sie hat mich ermordet“, stand auf der einen Scheibe und auf der anderen nur ein Name „Sarah“.

 

 

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Die Taube am Fenster

 

Der Wind heulte oft um das Wohnheim J4 in G. Wenn David auf dem Bett lag, zog er seine Decke noch ein Stückchen höher, bis zum Kinn. Obwohl das Fenster geschlossen war, kroch stets ein kalter Hauch zu ihm hinüber. Sein Zimmer war klein und quadratisch. Vom Schreibtisch aus war es nur eine halbe Drehung bis zum Regal, von dort noch zwei Schritte bis zum Bett und noch zwei weitere Schritte zur Küchenzeile. Vor sieben Wochen war er hier eingezogen. Das Gebäude war grau und alt und das Licht in den Fluren öfters defekt, aber die Miete war günstig und er wollte seinen Vater nicht um einen größeren Zuschuss bitten. Schließlich lebte der in einer nicht viel größeren Wohnung.
Als er gerade eingezogen war, wollte David das Beste draus machen. Er wartete darauf, seine Nachbarn auf dem Flur oder im Waschkeller zu treffen, sich vorzustellen, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Aber die Tage vergingen und er hörte keine Stimmen draußen auf dem Gang, nur hin und wieder eilige Schritte und zufliegende Türen. Einmal sprach er eine junge Frau an, die gerade eine Karte aus ihrem Briefkasten holte. Er sagte, er wohne jetzt auch hier. Sie zuckte mit den Schultern, sagte mit osteuropäischem Akzent, „nicht verstehen“ und ging eilig die Treppe hinauf.
Inzwischen hatte er es aufgegeben, seine Nachbarn kennen lernen zu wollen und bemerkte, wie auch er allmählich mit schnelleren Schritten in seinem Zimmer verschwand. An einem Regentag im November, als er gerade mit einer Tasse Tee über ein Buch gebeugt am Schreibtisch saß, schreckte ihn ein klopfendes Geräusch auf. Etwas verwundert drehte er seinen Kopf erst zur Tür, merkte aber dann, dass das Klopfen vom Fenster kam. Er schaute hinüber und sah auf dem Fensterbrett eine Taube sitzen und mit dem Schnabel gegen die Scheibe picken. Sie hatte weiße Federn, nur der Kopf war übersäht mit schwarzen Flecken. David führte seinen rechten Zeigefinger zum Glas hin, auf die Höhe des Schnabels und klopfte mit dem Fingernagel zurück, so dass ein leises Klacken zu hören war. Die Taube blieb daraufhin still hinter dem Fenster sitzen. Aber sobald David aufhörte mit dem Finger die Scheibe zu berühren, begann sie wieder ihren Schnabel gegen das Glas zu führen. So ging das Spiel eine Weile, bis das Geräusch eines Flugzeugs das Tier erschreckte und zur Flucht trieb. In den nächsten Tagen hoffte David darauf, dass die Taube wieder kommen würde. Wenn er nach den Vorlesungen in sein Zimmer kam, öffnete er das Fenster und schaute in alle Richtungen, ob er sie irgendwo entdeckte und auch vor dem Einschlafen sah er noch manches Mal zum Fenster hinüber. Als sie ein paar Tage nicht aufgetaucht war, begann er kleine Brotkrummen, die er von seinem Schinkenbrot abgerieben hatte, vor das Fenster zu legen. Und tatsächlich kurze Zeit später, saß die Taube wieder auf dem Fensterbrett und sammelte mit ihrem kleinen, spitzen Schnabel vergnügt die Nahrung ein. Bevor sie wieder davon flog, pickte sie wie zum Gruß noch drei Mal gegen das Glas. Von da an, legte ihr David jeden Abend ein paar Krummen von seinem Abendessen vor das Fenster und jeden Abend zeigte sie sich, immer zu gleichen Zeit.
An einem Samstag Ende November hatte David Geburtstag. Er hätte gerne mit Freunden zusammen gesessen, gemeinsam eine Flasche Wein getrunken, über das Leben philosophiert und über die Welt. Aber es war Wochenende und seine Kommilitonen wollten nach Hause fahren zu ihren Eltern oder Freundinnen und als er sie am Mittwoch fragte, hatten sie ihre Pläne schon gemacht. So verbrachte er den Samstag allein, ging durch trübes Herbstwetter spazieren und kaufte sich am Rückweg eine Flasche Rotwein. Zurück in seinem Zimmer öffnete er den Wein und trank ihn aus seinem schönsten Wasserglas. Die tiefrote Flüssigkeit hinterließ ein warmes Gefühl in seinem Bauch. Er ging in seine Küchenzeile und begann Kartoffeln und Gemüse zu schälen, was er noch nie in diesem Zimmer getan hatte. Er füllte die Zutaten zusammen mit dem Hackfleisch und der Käsesauce in eine Glasschüssel und stellte sie in den Backofen. Da er sich bisher zum Abendessen stets mit belegten Broten begnügt hatte, hatte er diesen noch nicht ausprobiert. So hoffte er, dass nicht auch dieses Gerät ihn heute enttäuschen würde. Er zündete ein Streichholz an, führte es an das kleine runde Loch im Boden des Ofens und drehte den Schalter um. Erst tat sich nichts. Aber beim dritten Streichholz sprang doch die Flamme an. Zufrieden schloss er den Ofen und machte es sich mit einem Block und dem Rotwein auf seinem Bett gemütlich. Sein Vater hatte ihm eine Karte geschickt, einen gedruckten Gruß, unter den er mit ungeübter Hand NORBERT geschrieben hatte. Nun war David in der Stimmung selbst einen Brief zu schreiben, so wie er es früher öfters getan hatte, einen langen Brief, an seine Freundin von damals, Anna. Sie hatte ihn doch immer verstanden, sie hätte nicht fortgehen sollen. Er setzte seinen Füller auf das Papier, doch geriet sogleich ins Stocken, allein die Anrede musste gut überlegt sein, er griff nach dem Wasser-Wein-Glas und trank, die Augen weiter auf das weiße Papier gerichtet.
Als er eine halbe Seite geschrieben hatte, war die Weinflasche leer. Sein Kopf fühlte sich schwer an und seine Augen müde. Er legte den angefangenen Brief zur Seite und zog sich die Bettdecke über die Schultern. Nur ein bisschen ausruhen, dachte er. Als er die Augen schloss, war es erst dunkel um ihn herum, dann sah er die Bilder von Anna, ihren gemeinsamen Ausfügen, ihren Sonntagen am See. Sie sitzen gemeinsam in einem Ruderboot und er rudert und sie lachen, weil die anderen Boote sie alle überholen. Sie hat ihm zum Geburtstag einen Kuchen gebacken mit Schokoladenguss und Kirschen oben drauf.
Ein Klopfen riss David aus seinen Traumgedanken. Er schaute auf und sah seine Taube hinter dem Fenster sitzen. Ihm fiel ein, dass er heute ganz vergessen hatte, ihr Brotkrummen hinzulegen, doch dann bemerke er plötzlich den Gasgeruch, der das Zimmer erfüllte. Benommen torkelte er zum Fenster, riss es auf, eilte zum Backofen, die Flamme war ausgegangen, nur das Gas strömte weiter. Er stellte den Ofen aus und ging zurück zum Fenster. Die Taube war inzwischen verschwunden. Er lehnte sich weit hinaus in die kühle Nacht und atmete erst unruhig, dann langsam und tief.
 
 

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Leihexemplar

 

Manchmal scheint die Sonne zu warm, verbrennt deine Haut, so wie die meine heute Mittag, im Stadtpark, während ich auf der Wiese sitze, dein Buch lese. Du hast es mir ausgeliehen, schon vor einer Weile. Es ist dein Lieblingsbuch, hast du gesagt, deshalb hast du zwei davon, eines für Freunde und eines nur für dich. Das brauchst du, schließlich weiß man nie, wie man ein Buch zurückbekommt. Mit Kaffee-, Wein- oder Tortenflecken und manchmal fehlen Seiten.
Das Buch, das ich nun habe, ist dein Leihexemplar. Ich darf es mit ins Freie nehmen und Sätze unterstreichen, die ich nicht verstehe oder besonders gut finde oder beides zur gleichen Zeit. Ich darf es in meiner Handtasche mit mir tragen, auch ohne Schutzumschlag. Aber in der S-Bahn müsse ich aufpassen, dass ich es nicht liegen lasse, wenn ich die Haltestelle einmal zu spät bemerke und dann überstürzt durch die Menschenmenge hindurch ins Freie dränge.
In der Eile passieren Fehler.
Ich lese und blättere Seite für Seite der Buchmitte entgegen, hinweg über grau und rot markierte Sätze. Mir begegnet Kien, sein Wahn, seine Wohnung, seine riesige Bibliothek. Meine Augen gleiten über die Zeilen vorbei an Therese, eine gierige und kräftige Person. Kien fängt an ihr zu vertrauen, was ihm später zum Verhängnis werden soll. Das hast du mir erzählt, als du auf der Leiter standest und mit einem Griff das Buch aus dem Regal genommen hast.
In vier Stunden werde ich in deiner leeren Wohnung stehen, zwischen gepackten Umzugskartons und deinen Freunden. Rotwein aus Plastikbechern. Die Gläser hast du schon in Zeitungspapier gewickelt. Nicht in die Anzeigen, sondern in „Panorama“ oder „Aus-aller-Welt“. Beim Auspacken liest du gerne die alten Artikel, nicht mehr als Nachrichten, dafür als Geschichten. Du zeigst Bilder von einem Landhaus. Jemand fragt, wie lange du dort bleiben willst, auf der Insel, wo es so oft regnet. Du weißt es nicht und zuckst mit den Schultern und schaust dabei zu mir herüber, nur kurz.
Die Buchstaben lösen sich vom Papier. Bilden keine Sätze mehr, sondern schwarze Figuren, Vögel, die fliegen, ich schaue ihnen hinter her, zum Himmel, geblendet kommt mein Blick zurück. Ich nehme meinen grünen Stift und unterstreiche die Worte, die soeben zum Leben erwacht sind. Dann schlage ich das Buch zu und mache mich auf den Weg zum Bahnhof.

 

 

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Im Schlaf

 

Seine Füße lagen auf der Bettkante, waren nackt. Die Zehen gerade nach oben gestreckt, als wollten sie ein Ziel erreichen, während der Rest des Körpers schlief. Der erste und der zweite Zeh schienen miteinander zu kämpfen, wer von beiden größer sei, doch ohne Ergebnis. Keinem gelang es den anderen zu überragen. Eine weiche Kurve zog sich bis zur Ferse hinunter. Dem Orthopäden hat sie gar nicht gefallen. An der Ferse blättert die Hornhaut. Fetzen von ihr langen in der Wohnung verteilt, winzige Fetzen, kaum sichtbar, aber sie waren da.
Etwas höher sah man den Knöchel spitz hervorstechen, sich an Pyramiden erinnernd. Darüber kräuselten sich braune Härchen, zwischen denen manchmal ein blondes zu entdecken war.
Plötzlich bewegte er sich. Er träumte und drehte sich im Schlaf. Seine Füße traten in den leeren Raum. Wollten die Gefahr vertreiben, die nur in seinem Kopf bestand. Es war ein verzweifeltes Zucken, ein ängstliches Treten, so wie wenn jemand läuft, barfuss über heißen Sand.
Letzten Sommer ist er im Stadtpark in eine Biene getreten. Noch immer erinnert ein winziger Punkt neben dem Spann an diese Schmerzen, die er noch nicht vergessen hat. Sabine hatte er an jenem Tag eingeladen zu einem Picknick. Sie war gekommen, nachdem er immer wieder auf die Uhr gesehen, die Hoffnung schon aufgegeben hatte. Sie haben zusammen Wein getrunken, während über ihnen die Sonne brannte und um sie herum Kinder tobten. Schon bald begann sich der Park zu drehen. Sabine verlangte nach Wasser, kaltem Wasser. Er war zu dem kleinem Fluss gegangen,  wo die Getränke kühlten. Hatte die blaue Flasche gepackt. Natriumarm stand auf dem Etikett. Dann war er losgelaufen, froh über ihre Worte, über Sabine, über die Welt und war in diese Biene getreten. Hatte geschrien wie die Kinder beim Fangenspielen, hatte die Wasserflasche von sich geschleudert, so dass sie am nächsten Baum zerbrach. Sabine war aufgestanden und gegangen, nicht zurückgekehrt und er lag auf dem Rücken und zuckte, so wie er im Schlaf zuckte, in jenem Moment, als ich sein Zimmer betrat, um ihn zu wecken.

Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Toilettentod

 
Sein Vater starb im Sitzen auf der Toilette, so wie auch dessen Vater fünfzehn Jahre zuvor. Darmprobleme und ein schwaches Herz. Hatten beide ihr Leben lang gearbeitet in einer Fabrik für Bügeleisen. Immer wenig Geld gehabt und früh geheiratet. Sahen ihre Kinder größer werden und ihre Frauen älter. Tranken am Wochenende Bier mit guten oder weniger guten Bekannten. Irgendwann waren die Kinder erwachsen, zogen aus. Dann sahen sie in den Spiegel, in ihre Falten bedeckten Gesichter.
Tim fürchtete sich vor dem Leben des Großvaters, das er nur aus Erzählungen kannte und vor dem seines Vaters. Fürchtete selbst so leben zu müssen und zog zu Freunden in eine WG am anderen Ende der Stadt. Arbeitete als Fahrradkurier und während der Adventszeit als Weihnachtsmann in einem Kaufhaus. Verliebte sich in den Engel, der Caroline hieß und ihm davon schwebte. Weinte allein in seinem Zimmer vor dem Tannenbaum aus Plastik. Dann klingelte das Telefon, er hatte gehofft, es sei sein Engel, den Rotz in der Nase hochgezogen. Es war seine Mutter. Schlechte Nachrichten. Sein Vater tot. Seine Mutter hatte ihn gefunden, wie er auf der Kloschüssel saß, den Kopf an die Wand gelehnt, die Augen verdreht. Noch lange machte sie sich Vorwürfe, gab der Weihnachtsgans die Schuld. Der Arzt drückte Tim die Hand. Beruhigungstropfen für die Mutter. Tim ging durch die Wohnung. Alles war still, nicht mal die Nachbarskinder schrien, nur die Dielen knarrten unter seinen Füßen. Er griff nach dem Foto, das auf dem Regal im Wohnzimmer stand. Sein Vater in jungen Jahren, seine Mutter im Arm. Er lachte, ahnungslos wie alles enden würde.








Veröffentlicht unter Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar

Drei Kisten

 

Der Kellner fragt mich, ob ich Kaffee bestellt habe. Ich weiß es nicht mehr und sage ja. Er stellt die weiße Tasse vor mir auf den Tisch, dann dreht er  sich um und geht und murmelt dabei ineinandergeschlungene Worte, die ich nicht verstehen kann.
Ich hole meine Brieftasche aus der Jacke. Zum dritten Mal in dieser Stunde, glaube ich und ich weiß es hat keinen Sinn. Die Papiere sind weg. Heute Morgen. In der U-Bahn. Alles. Pass, Kreditkarten, die Euroscheine und die Dollarnoten. Drei Jungen. Nur das Münzgeld haben sie mir gelassen.
Ich bin zu R. gefahren, weil ich ihn jedes Mal als erstes besuche, wenn ich zurückkomme, obwohl ich nicht weiß, ob er sich freut, wenn ich plötzlich auftauche oder ob ich ihn wirklich sehen will. Mit jedem Besuch schrumpfen die Worte, die wir uns sagen, werden kleiner und weniger. Das Schön-Dass-Du-Da-Bist ist schon lange durch ein Hallo ersetzt. Schweigepausen bekämpft er, indem er mich fragt, ob ich essen will.
Aber diesmal war R. verschwunden. Das Namensschild fehlte an der Klingel. Kein Licht brannte hinter den Fenstern. Im Flugzeug hatte ich mir seinen Blick vorgestellt, zwei Augen, die durch meine Haare wandern, um meine Ohren herum bis zum Kinn. Ich hatte mich selbst dabei beobachtet, wie ich auf seinen Dachboden steige, die Kartons aufklappe, einen nach dem anderen, wie ich das rote Fotoalbum heraushole, durchblättere, die silberne Uhr von meinem Vater darunter finde und in meine Tasche stecke. Sie hatte mir gefehlt.
Ich ziehe mein Notizbuch hervor, die Finger streichen über die Namen und Nummern. Ich berühre ihren Namen – M. – in der letzten Zeile. Mit Bleistift unterstrichen. Sie sieht mich an. Ich schaue weg. Sie wollte alles richtig. Ich vielleicht. Ein weißes Kleid, hat sie gesagt. Endlich für immer. Mit dir. In drei Kisten hatte ich alle meine Sachen gepackt.
 
Der Kellner kommt noch einmal zu mir herüber. Meine Hand greift nach der Brieftasche. Er will wissen, ob ich Herr D. sei. Ich schaue mich um. Ob ich Herr T. D. sei, wiederholt er seine Frage. Ich weiß es nicht. Jemand wartet auf mich, sagt er, am Telefon, es sei dringend. Ich stehe auf und gehe in die Richtung, in die sein ausgestreckter Arm zeigt, seine abgekauten Fingernägel, in einen schmalen Gang hinein. Zwischen den Toilettentüren hängt das Telefon, der Hörer in der Luft, ich greife danach, atme ein Hallo hinein. „Ich brauche deine Hilfe. Meine Schlüssel sind weg, ich kann sie nicht finden. Mir ist kalt. Beeil dich bitte.“
Eine Stimme sagt „bis gleich“, bevor eine Hand den Hörer auflegt und zwei Beine sich zum Ausgang bewegen.
 
November, 2006

 

 

Veröffentlicht unter Allgemein, Kurz-Prosa | Hinterlasse einen Kommentar